In dieser Region sind Unruhen keine Seltenheit, Tradition spielt eine übergeordnete Rolle und Magie ist im Volksglauben fest verankert. Die „Stammeschefs“ sind die traditionellen Autoritätspersonen im Land. Diese mächtigen Männer müssen sich allerdings seit einem 2015 erlassenen Gesetz ein wenig mehr der Staatsgewalt beugen, da sie von der Regierung „ernannt“ werden.
Im August 2016 eskalierte ein Stammeskonflikt, der sich dann auf fünf Provinzen ausbreitete und bei dem es zu schweren Verletzungen von Menschenrechten durch bewaffnete Männer aus allen Reihen kam.
Gesundheitszentrum in Kamuina Nsapu. Demokratische Republik Kongo (DRC). November 2018. © Olivier Pirot
Nach dem Tod des Stammeschefs Kamuina Nsapu, der traditionell nach seinem Heimatdorf benannt worden war, wurde sein von der Bevölkerung ausgewählter Nachfolger nicht von der Regierung anerkannt, und das Dorf trat in den Widerstand.
Nach großem Hin und Her wurde der neue Stammeschef Kamuina Nsapu von der Armee getötet, die ihm eine Beerdigung nach den Stammessitten verwehrte. Die Lage lief in der Folge komplett aus dem Ruder und in der Region Grand Kasaï spielten sich auffallend gewaltsame Gräueltaten und Übergriffe gegen die lokale Bevölkerung ab, die sowohl vom kongolesischen Militär als auch von armeetreuen Milizen und solchen, die hinter Kamuina Nsapu standen, verübt wurden.
Nach bedeutsamen Vorstößen im Grand Kasaï Richtung Norden und Westen haben sich die Milizen inzwischen wieder in ihr ursprüngliches Territorium zurückgezogen. Die Lage ist daher äußerst instabil, da sich viele bewaffnete Gruppen in einem relativ kleinen Gebiet aufhalten, eine große Zahl von Waffen im Umlauf ist (Blankwaffen, Gewehre, AK-47) und der Staat durch Maßnahmen vor den Wahlen versucht, seine Autorität wiederherzustellen (Anm. d. Red.: Präsidentschafts-, nationale Parlaments- und Provinzwahlen fanden Ende Dezember 2018 statt*.)
Ärzte ohne Grenzen (MSF) ist zum heutigen Zeitpunkt die einzige internationale Hilfsorganisation in der Kasaï-Region mit einer ständigen Vertretung.
Das Gesundheitssystem ist angeschlagen und Kasaï ist ein Gebiet, das von der Regierung schon seit langem vernachlässigt wird, da es als Hochburg der Opposition gilt. Daher ist die medizinische Versorgung äußerst eingeschränkt. Ein großer Teil der medizinischen Einrichtungen, die sich sowieso schon in einem erbärmlichen Zustand befanden, wurde zerstört oder Opfer von Plünderungen und die Infrastruktur ist gelinde gesagt unzureichend.
Ein Entbindungsraum in der Region Kasai. RDC. November 2018. © Olivier Pirot
MSF arbeitet daran, mehrere Gesundheitszentren für die Gemeinde wiederaufzubauen und ein Allgemeinkrankenhaus zu errichten, das als Referenz in der Region dienen soll. In den Gesundheitszentren helfen wir im Großen und Ganzen bei der Erstversorgung (ambulante Versorgung, Entbindungsstation, Impfung, Schulungen, Zugang zu fließendem Wasser usw.) und kümmern uns auch mit um die Überweisung von Patienten in das Allgemeinkrankenhaus. In letzterem betreiben wir eine Kinderstation samt einer Verpflegungs- und einer Geburtsstation und unterstützen andere Abteilungen wie die Chirurgie und die Blutbank.
Zudem helfen wir dem Krankenhaus auch bei der Wasserversorgung, bei der Aufrechterhaltung der hygienischen Bedingungen sowie bei der Abwasserableitung. Vor Ort behandeln wir Mangelernährung und Malaria (wir befinden uns mitten in der Regenzeit und außerdem in einem Gebiet, in dem die Mücken heimisch sind und wo diese zu bestimmten Zeitpunkten im Jahr überdurchschnittlich stark vertreten sind) und kümmern uns um Kinder und Erwachsene, die ins Allgemeinkrankenhaus eingewiesen werden.
Durch die kulturellen Gegebenheiten ist MSF gezwungen, den speziellen Bedürfnissen der Bevölkerung Rechnung zu tragen. So weigern sich die Frauen die Entbindungsstation zu verlassen, bevor nicht die Nabelschnur des Babys abgefallen ist (dies kann erst 6-7 Tage nach der Entbindung geschehen), weil sie fürchten, damit Unglück in ihr Haus zu bringen.
Als Einsatzleiter übernahm ich eine ganze Reihe von Aufgaben.
Der Einsatzleiter muss sich zuallererst um alles Organisatorische kümmern, zwischen den Behörden und anderen Akteuren vermitteln und bestimmte Partnerschaften aufbauen. Er repräsentiert MSF auf nationaler Ebene. So hatte ich zum Beispiel die Gelegenheit, mich mit dem Premierminister zu unterhalten.
Außerdem muss man sich in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen und dem Koordinationsteam auf eine operative Strategie einigen, was die Ausarbeitung von Aktionsplänen entsprechend den verschiedenen Szenarien mit einschließt. Man muss die Geschehnisse analysieren (wie den beachtlichen Zustrom von kongolesischen Flüchtlingen, die während meines Einsatzes aus Angola vertrieben worden waren), einen eventuellen Bedarf erkennen und Handlungsszenarien entwerfen. Darüber hinaus muss man die Koordinierung bei der praktischen Umsetzung der Projekte übernehmen.
Der Einsatzleiter muss ebenfalls den teils komplexen regionalen Kontext gut kennen, um eine strategische Vision für die Zukunft auszuloten. So war eines meiner Hauptziele, meinem Nachfolger für 2019 meine Vision mit auf den Weg zu geben.
Es ist wesentlich, den regionalen Kontext zu verstehen, da der Einsatzleiter die Hauptverantwortung für den sicheren Ablauf der Mission trägt, und dieser muss zudem sicherstellen, dass Krisenstrategien vorhanden sind. In der Demokratischen Republik Kongo stehen bald Wahlen an. Dadurch verschärft sich eine bereits sehr unberechenbare Ausgangslage noch zusätzlich.
Im Alltag hat man als letzte Instanz für alle politischen Aspekte und den Ablauf des Einsatzes von MSF die Entscheidungen zu treffen und Schwierigkeiten zu bewältigen (Verwaltungsaufgaben, Logistik, Finanzen, personalrelevante Entscheidungen und MSF als Organisation allgemein).
Dieser Aufgabenbereich liegt mir als Einsatzleiter besonders am Herzen: die Betreuung und Unterstützung des Koordinationsteams in der Hauptstadt und der Koordinatoren in ländlichen Gebieten. Ich versuche immer ansprechbar zu sein und für alle ein offenes Ohr zu haben, und dies nicht nur bei besonders anspruchsvollen Fällen, sondern ich möchte auch dafür sorgen, dass die Stimmung im Team gut ist und dass alle wohlauf sind.
Angesichts des instabilen Kontextes mangelt es nicht an Herausforderungen: MSF muss sich so zum Beispiel feindlichen Stimmen, die auf mehr Unabhängigkeit pochen, und Bestrebungen zur Schließung humanitärer Einrichtungen entgegenstellen.
Man muss ständig mit den tonangebenden Instanzen verhandeln, um unsere Präsenz aufrechtzuerhalten und einen Zugang zu einer kostenlosen Versorgung sicherzustellen.
Die Sicherheit der Teams und der Patienten zählt ebenso zu den stets allgegenwärtigen Themen und mein Einsatz war durch mehrere Vorkommnisse dieser Art gezeichnet.
Bedingt durch die besondere Ausgangslage muss darüber hinaus unentwegt auf eine positive Stimmung in den Teams geachtet werden.
Auch die Wahlen im Dezember 2018* erschweren die Analyse der Situation und ihren Folgen und wir müssen uns auf mögliche Auseinandersetzungen einstellen.
Auf einem Einsatz auf dem Land überwachte ich eine Lieferung von Baumaterialien für den Wiederaufbau des Gesundheitszentrums im Dorf Kamuina Nsapu. Alle Dorfkinder drängten sich um den Lieferwagen, was ziemlich gefährlich war aufgrund der Materialien, die wir ausluden. Um die Kinder wegzulocken, wendete ich kurzerhand einen „Zaubertrick“ an: Ich ließ einen Teil meines Daumens „verschwinden“ und zauberte ihn dann wieder hervor. Dies war eine tolle Gelegenheit, mit der Dorfbevölkerung in Kontakt zu treten – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder wollten den Trick erneut sehen. Dann kam ein Mann auf mich zu, beobachtete mich und sagte mir schließlich: „Du bist ein großer Hexer, aber unser Dorfoberhaupt ist noch ein viel mächtigerer, denn er kann sich alle 5 Finger abtrennen und wieder annähen!“.
Kinder in einem Dorf in der Demokratischen Republik Kongo November 2018. © Olivier Pirot
Eine weitere prägende und einmalige Erfahrung war das Treffen mit dem Premierminister, das ich zuvor angesprochen habe. Das war das erste Mal, dass ein Vertreter von MSF mit diesem Premierminister sprechen durfte, der im Dezember 2016 nach dem Silvesterabkommen eingesetzt worden war und dessen wichtigste Mission lautete, Wahlen zu organisieren* (diese waren zuvor verschoben worden) und den demokratischen Wandel auf den Weg zu bringen.
* Das Interview wurde Anfang Dezember geführt.