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MSF Zyklon Idai Simbabwe

Simbabwe

Der Zyklon Idai in Simbabwe: die ersten sechs Tage

Ein MSF-Team geht zu Fuss in ein Dorf, das wegen der Schäden verursacht durch den Zyklon Idai nicht anders mehr erreichbar ist. Simbabwe. März 2019. © MSF
Augenzeugenberichte 
Marthe Frieden - MSF Projektkoordinator bei der Notfallhilfe von MSF
Marthe Frieden leitete den Notfalleinsatz des medizinischen Teams von MSF infolge des Zyklons Idai, der Simbabwes Bergprovinz Manicaland in der Nacht vom 15. März erschütterte und besonders im Bezirk Chimanimani Überschwemmungen und tödliche Erdrutsche verursachte.

    Vor der Idai-Katastrophe arbeitete Marthe Frieden im nahegelegenen Chipinge-Bezirk am MSF-Pilotprojekt zum Umgang mit Diabetes und Bluthochdruck in Kooperation mit dem simbabwischen Gesundheitsministerium. Sie beschreibt die Ereignisse der ersten sechs Tage nach dem Unglück in den am schlimmsten betroffenen Bezirken Chimanimani und Chipinge aus Sicht des 10-köpfigen MSF-Teams, das von seiner üblichen Tätigkeit schnell zur Nothilfe überging. 

    „Nyamavhuvhu“ – der windige Monat. So wird der Monat August auf Schona, einer der Landessprachen Simbabwes, bezeichnet, da dieser Monat für gewöhnlich der windigste vor den ersten Regengüssen ist. „Mhepo iri kuvhuvhuta!” – Der Wind weht.

    Doch dieses Jahr kündigten in der Nacht vom 15. März von den Bergen kommende Sturmböen von über 200 Stundenkilometern nach einer langen Trockenzeit die Ankunft eines gewaltigen Zyklons an, der tausende von Tonnen Wasser über der simbabwischen Manicaland-Provinz ablud.


    MSF Cyclone Idai Zimbabwe
    Die durch den Zyklon Idai im Bezirk Chimanimani verursachten Überschwemmungsschäden waren beträchtlich, viele Straßen wurden über mehrere Kilometer hinweg vollständig zerstört. Simbabwe. Mars 2019. © MSF

    Bis zu jener Nacht schritt unser Projekt in Chipinge „mbichana mbichana” (sehr gemächlich) voran: Entwicklung eines Behandlungsmodells für Patienten mit mehreren Krankheiten, die im Krankenhaus Hilfe suchen, Forschung nach Zusammenhängen zwischen Infektionskrankheiten wie HIV und Tuberkulose und nichtübertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Asthma und Epilepsie.

    Das größte Kopfzerbrechen bereiteten uns die prekäre wirtschaftliche Lage in Simbabwe und die damit verbundene unregelmäßige Versorgung mit für die Bevölkerung unbezahlbaren Medikamenten. Wir hatten kleine Fortschritte gemacht, die immer wieder von einem Ausbruch von Malaria oder Durchfallerkrankungen ausgebremst wurden.

    Und dann kam Idai, der Bäume entwurzelte und friedliche Bächlein in reißende Ströme verwandelte. Brücken und die wichtigsten Zufahrtswege hielten ihm nicht stand, genauso wenig wie Häuser und Tierunterstände.  Felsblöcke stürzten gewaltsam „wie außer Kontrolle geratene Lastwagen ohne Bremsen“ (nach Aussage eines Einwohners von Chimanimani) die Abhänge herunter. Die Schlamm- und Geröllmassen vernichteten ganze Familien und Behausungen und als sich die Natur wieder beruhigt hatte, ließ sie ein Massengrab zurück.  

    Tag 1 - Samstag, der 16. März

    Ich nahm an einer Krisensitzung teil, die von offizieller Stelle einberufen wurde. Dort stieg das Gefühl von Verzweiflung und Hilflosigkeit ins Unermessliche, da man sich des Ausmaßes der Schäden und der unfreiwilligen Isolation der Katastrophengebiete bewusst wurde. Wir wussten, dass wir Notfallmaßnahmen ergreifen mussten, und unser Führungsstil ging von einem partizipativen in einen anleitenden Ansatz über. Wir zogen unsere lässigen Fußballtrikots aus und schlüpften in offizielle MSF-T-Shirts, ließen den Smalltalk gut sein und konzentrierten uns direkt auf das Wesentliche. 

    Tag 2 - Sonntag, der 17. März

    Das MSF-Team verließ Mutare mit dem Ziel, das Mutambara-Krankenhaus im Chimanimani-Bezirk mit Medizinbedarf zu versorgen. Nachdem wir uns einen ganzen Tag lang einen Weg über eingestürzte Brücken und mit Landmassen und Geröll übersäte Straßen gebahnt hatten, mussten wir einsehen, dass uns weder die beiden Hauptstraßen noch die notdürftigen Schotterstraßen Zugang zum Bezirk gewähren würden. Der Bezirk war komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Wir mussten also nach einem anderen Weg suchen. 

    Tag 3 - Montag, der 18. März

    Wir nahmen Kontakt zum simbabwischen Militär auf und erhielten die Erlaubnis, an einem strategisch wichtigen Punkt mit einem guten Überblick über das Krisengebiet Chimanimani, das mittlerweile als „Skyline“ bezeichnet wurde, drei Zelte als Versorgungsstation zu errichten. Wir richteten außerdem eine Bitte an das Militär, uns bei der lebenswichtigen Versorgung von isolierten Krankenhäusern zu unterstützen. Vertreter der lokalen Gemeinschaft versammelten sich in Gruppen, um Strategien zu besprechen, das Leben von Familienmitgliedern und Freunden zu retten, die im Chimanimani-Tal verschüttet waren. Sie äußerten ihren Frust über das schleppende Tempo der Hilfsmaßnahmen. Währenddessen setzten sich die Regenfälle fort, der Dunst ging in Nebel über und verhinderte somit den Start der Hubschrauber. Es waren bereits dutzende Opfer für tot erklärt worden und die Vermisstenmeldungen nahmen rasant zu. Die Uhr lief gegen uns.

    Tag 4 - Dienstag, der 19. März

    Der MSF-Notfallkoordinator reiste aus Harare an, um sich mit uns in Skyline zu treffen. Ein Freiwilligenteam aus jungen, hochqualifizierten simbabwischen Ärzten tauchte scheinbar aus dem Nichts auf und gesellte sich zu uns in die Zelte. Diese Ärzte waren Mitglied eines aktiven Netzwerks aus Kirchen, Krankenhäusern und Absolventen der University of Zimbabwe. Einige von ihnen wurden mit dem Hubschrauber in das Katastrophengebiet geflogen. „Tinokugamuchirai mose”, riefen wir – Wir heißen euch willkommen.

    Die Arbeit der dann vermehrt eintreffenden Nothilfeorganisationen war zwar nicht koordiniert, doch die Helfer zogen an einem Strang. Dann wurde ein Koordinationsmechanismus zusammen mit dem Gesundheitsministerium und anderen beteiligten Akteuren eingerichtet. Der Hauptteil der Kommunikation erfolgte in WhatsApp-Gruppen wie der „Medizinischen Gruppe Zyklon Idai“, in der ich Mitglied war.  

    Die ersten Patienten trafen ein, noch bevor wir uns um die Betten kümmern konnten. Einige hatten entzündete Wunden, doch es gab zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal Wasser zum Händewaschen. Die Patienten wurden auf Plastikfolie am Boden liegend von Ärzten und Pflegern untersucht und stabilisiert. Der Himmel hellte sich auf und immer mehr Patienten mit Knochenbrüchen und Schnittwunden wurden mit dem Hubschrauber nach Skyline eingeflogen. Privat organisierte Krankenwagen brachten Patienten ins Krankenhaus, während MSF Menschen mit leichteren Verletzungen ins etwa 50 Kilometer entfernte Bezirkskrankenhaus Chipinge einlieferte.

    Das Protokoll und Papierkram werden zur Nebensache, wenn die Umstände eine schnelle Koordination zwischen Hubschrauberpiloten und Ärzten erfordern, die nicht über den Landweg erreichbare Gesundheitseinrichtungen erreichen müssen. Diese Verantwortung wurde prompt zur Gewissenssache. Rasch mussten der Nutzen und das Risiko abgewägt werden.

    Tag 5 - Mittwoch, der 20. März

    Während die ersten Spendengüter von den Hilfsorganisationen verteilt wurden, beobachteten wir eine Menschenmenge, die den Berg hochmarschierte, um den Präsidenten des Landes zu begrüßen, dessen Kommen für jenen Tag angekündigt worden war.  Ein weltbekannter Hersteller von Erfrischungsgetränken verdiente sich durch den Antransport von hunderten Flaschen Trinkwasser – ein Gut, das dort dringend benötigt wurde – meinen Respekt. Eine Mineralölgesellschaft machte sich daran, mit schwerem Gerät die Straßen freizuräumen, mobile Toiletten wurden aufgebaut und eine simbabwische Lebensversicherungsgesellschaft stellte eine große Zahl von Betten zur Verfügung. 

    Als wir gerade dabei waren, eine Apotheke zu errichten, lösten sich die Heringe durch den Windstoß eines gefährlich nahe vorbeifliegenden Hubschraubers aus dem Boden und die Zelte wurden hinfort gerissen. Was für ein herber Rückschlag! Nichtsdestotrotz ging die Versorgung der Verletzten weiter; wir stabilisierten sie und brachten sie ins Krankenhaus. Währenddessen machten wir uns große Sorgen um die, die wir nicht erreichen konnten. Ein Fußmarsch ins Tal kam nicht infrage. Das Militär und Privatunternehmen vor Ort versuchten, einen direkten Zugang zu schaffen. Würde es unserem Team gelingen, am folgenden Tag bis zum betroffenen Gebiet vorzustoßen?

    Tag 6 - Donnerstag, der 21. März

    Endlich traf ein Wassertank in Skyline ein. Die Zahl der eingelieferten Patienten mit Traumata nahm schnell ab. Bewohner der Bergregion rund um Skyline hatten den Weg auf sich genommen, um nach Medikamenten zur Behandlung von HIV, Diabetes, Bluthochdruck und Asthma zu fragen.  Einige hatten ihre Medikamente in den Fluten verloren, andere wiederum hatten keinen Zugang zu ihren Gesundheitseinrichtungen mehr. Unsere Aufgabe war es, diesen Verlust aufzufangen, und so wurde aus der Versorgungsstation die wichtigste medizinische Anlaufstelle in der Region. Endlich konnte die Straße freigeräumt werden und unsere mobilen Teams waren somit in der Lage, in die betroffenen Gebiete zu fahren – allerdings nur, wenn es aufhören würde, zu regnen. 

    Der Noteinsatz wurde fortgeführt, die Infrastruktur wiederaufgebaut, die Toten wurden gegraben und den Überlebenden wurde Unterstützung gegeben, damit diese ihr Leben zurückgewinnen konnten. Da wurde mir klar, dass man unbedingt eine Brücke zwischen den Notmaßnahmen und der Behandlung von chronischen Krankheiten schlagen müsste. Menschen mit traumatischen Knochenfrakturen oder ernsten Verletzungen würden mittel- oder langfristig Nachsorgemaßnahmen benötigen – besonders solche mit Wirbelsäulenverletzungen. Überlebende mit posttraumatischer Belastungsstörung könnten dasselbe Schicksal erleiden wie viele psychisch kranke Menschen, denen eine Behandlung versagt bleibt, da Simbabwe mit Engpässen von psychotherapeutischer Versorgung und Medikamenten zu kämpfen hat.  

    Der Zyklon hat die sowieso schon missliche sozioökonomische Lage in der Region verschärft und jetzt bekommen wir erst die vielfältigen Nachwirkungen der Katastrophe zu spüren: Zu den bereits vorhandenen Problemen (Dürre, eine lähmende Wirtschaftskrise, eine tief verwurzelte HIV-Epidemie, Zunahme von Diabetes, Bluthochdruck und anderen nichtübertragbaren Krankheiten) kommt jetzt noch mit dem wohl heftigsten Zyklon in der Region seit Beginn der Wetteraufzeichnungen absolute Verwüstung. Es liegt auf der Hand, dass mittel- und langfristig Fortschritte gemacht werden müssen. Ferner ist Hilfe in den verschiedensten Bereichen vonnöten. In der Übergangszeit werden unsere MSF-Teams das Gesundheitsministerium und andere Akteure in ihrer Aufgabe tatkräftig unterstützen.

    MSF Cyclone Idai Zimbabwe
    Guillaume Malin, MSF-Logistikkoordinatorin, prüft, ob das MSF-Fahrzeug den Fluss überqueren kann, um bestimmte Bereiche zu erreichen, die bisher unzugänglich waren. Simbabwe. März 2019. © Gloria Ganyani/MSF

    Die Folgen des Tropensturms Idai in Simbabwes östlicher Hochebene sind besonders verheerend: 181 Tote, 330 Vermisste und fast 22.000 Vertriebene. Mehrere Brücken und ganze Straßen wurden weggeschwemmt oder sind immer noch aufgrund von Erdrutschen gesperrt. Dadurch können manche Bewohner nur zu Fuß erreicht werden. Viele haben ihr Zuhause oder ihre Existenzgrundlage verloren und der Zugang zu sauberem Trinkwasser stellt eine große Herausforderung dar. 

    Die Versorgungsstation Skyline hat ihren Zweck erfüllt und wird jetzt geschlossen. Ein MSF-Team unterstützt das Personal des Gesundheitsministeriums in Chimanimani beim Patientenmanagement und hilft bei der Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten. Die Wasseraufbereitung und Prävention gegen Durchfallerkrankungen sind ein wesentlicher Bestandteil der MSF-Strategie und zwei mobile MSF-Teams sind aktuell zu Fuß im Bezirk unterwegs und versuchen, sich in die 15 am stärksten betroffenen Gesundheitszentren und angrenzenden Siedlungen von Chimanimani zu begeben, um die medizinischen Bedürfnisse zu beurteilen und Arzneimittel an Kliniken und medizinische Fachkräfte in den Dörfern zu verteilen. Unsere Teams verteilen außerdem Grundversorgungsmittel und Tabletten zur Wasseraufbereitung. Die größten gesundheitlichen Anforderungen im Chimanimani-Bezirk sind momentan traumatische Verletzungen, Nachschub für antiretrovirale Therapien für HIV-Patienten und Medikamente gegen chronische Krankheiten.